Wenn gesunde Ernährung zur Sucht wird
Als Orthorexie bzw. „Orthorexia nervosa“ wird der „obsessive Drang, gesund zu essen“ bezeichnet. Das Wort stammt aus dem Griechischen und heißt übersetzt „richtiger Appetit“ – seltsam eigentlich, denn der Appetit soll bei den Betroffen ja gerade keine Rolle spielen, sondern ausschließlich der Gesundheitswert der Lebensmittel. Geprägt hat den Begriff der amerikanische Arzt Stephen Bratman, der die zunehmende „Sucht nach gesundem Essen“ bei sich selbst beobachtet hatte. Ich zitiere mal aus ARD Wissen:
„Bratman, ein Alternativmediziner, arbeitete vor seiner Medizinkarriere als Koch in einer Öko-Kommune. Er beriet viele seiner Patienten in Ernährungsfragen und lebte selbst ebenfalls entsprechend seiner Ratschläge. Nach eigener Aussage glaubte er damals, dass die gesundheitliche Wirkung von Ernährung allgemeingültig und das Einhalten einer strengen, an Lebensmittelqualität ausgerichteten Diät uneingeschränkt gesundheitsförderlich und nebenwirkungsfrei sei. Im Laufe der Zeit stellte er jedoch fest, dass seine Anforderungen an die eigene Ernährung immer extremer wurden. Gemüse zum Beispiel durfte nicht vor mehr als 15 Minuten im eigenen Garten geerntet sein; am liebsten aß er allein, um die nötige innere Ruhe für eine optimale Verdauung zu haben. Abweichungen von seinen Essregeln – zum Beispiel durch Einladungen zum Essen, denen er aus Höflichkeitsgründen nicht ausweichen konnte – empfand er als sündhaft und bestrafte sich durch selbst verordnetes Fasten. Der Gedanke an Essen – genauer: gesundes Essen – überlagerte alle anderen.“
Wer da ansatzweise das eigene Verhältnis zur Ernährung wiedererkennt, darf sich demnach zu den „Orthorektikern“ zählen. Zwar wird laut Wikipedia das Krankheitsbild vielfach bestritten und ist von der „Schulmedizin“ nicht anerkannt, doch hat das ja noch nie daran gehindert, quer durch die Medien eine neue Gefahr, eine Sucht bzw. ein Fehlverhalten an die Wand zu malen. Auf dem Chirurgie-Portal findet sich im einschlägigen Artikel sogar ein Selbsttest:
- Denken Sie mehr als 3 Stunden am Tag über Ihre Ernährung nach?
- Planen Sie Ihre Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus?
- Ist Ihnen der ernährungsphysiologische Wert Ihrer Mahlzeit wichtiger als die Freude an deren Verzehr?
- Hat die Steigerung der angenommenen Lebensmittelqualität zu einer Minderung Ihrer Lebensqualität geführt?
- Sind Sie in letzter Zeit strenger mit sich geworden?
- Steigert sich Ihr Selbstwertgefühl durch gesunde Ernährung?
- Verzichten Sie auf Lebensmittel, die Sie früher gerne gegessen haben, um nun „richtige“ Lebensmittel zu essen?
- Fühlen Sie sich schuldig, wenn Sie von Ihrer Diät abweichen?
- Haben Sie durch Ihre Essensgewohnheiten Probleme auszugehen und distanzieren Sie sich dadurch von Freunden und Familie?
- Fühlen Sie sich glücklich und unter Kontrolle, wenn Sie sich gesund ernähren?
Viermal JA und man hat „möglicherweise“ eine Orthorexie.
Soll gesundes Essen diskriminiert werden?
Obwohl das Krankheitsbild umstritten ist, warnte die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) im Sommer 2014 in ihrem Blog vor der neuen Essstörung. In „Orthorexie: Eine Art Essstörung, aber kein etablierter Krankheitbegriff“ heißt es:
„Menschen mit Orthorexie sind vom gesunden Essen besessen. Sie fühlen sich Pommes- oder Fertigpizza-Essern überlegen. Sie verzehren stattdessen Dinkelstangen aus dem Reformhaus, verachten Zusatzstoffe oder Fleisch ohne Bio-Siegel. Die „richtige“ Ernährung soll in ihren Augen Krankheiten vorbeugen.“
Das schreibt Prof. Helmut Schatz aus Bochum allen Ernstes so hin und findet in den Kommentaren auch mehrheitlich Zuspruch. Widerspruch gab es immerhin unter dem entsprechenden Artikel in der Ärztezeitung, wo Maria Dolzer schreibt:
„Beim lesen dieses Artikels reibt man sich doch sehr verwundert die Augen und fragt sich ob das ernst gemeint ist.
In einer Zeit in der unsere Nahrung immer mehr denaturiert, vorgefertigt und mit mehr oder weniger „delikaten“ Zusatzstoffen versehen ist, fragt man sich schon wer die Entwicklung dieses Begriffes angeregt, bzw. finanziert hat. Geht es hier darum Menschen die auf eine gesunde Ernährung achten wollen und/oder müssen, da sie Unverträglichkeiten und Allergien entwickelt haben, einen Krankeitsstempel aufzudrücken um neue Therapien für teures Geld anbieten zu können?“
Ist die „Orthorexia Nervosa“ also nur ein reiner Kampfbegriff gegen alle, die versuchen, sich gesünder zu ernähren? Selbst wenn es sie gibt, bzw. tatsächlich einige Betroffene unter den selbst gewählten Einschränkungen ihrer Ernährungsform psychisch oder gar physisch leiden, so eignet sich das Mem „allzu gesund ist auch wieder krank“ doch wirklich gut, um viele zu diskriminieren, die einfach nur gesund leben wollen. Diese Ambivalenz springt mir sofort ins Auge, auch wenn ich zur Sache selbst noch keine gefestigte Meinung habe.
Breaking Vegan: aus „The Blonde Vegan“ wird „The Balanced Blonde“
Auf das Thema bin ich gestoßen, als ich mal wieder News rund um „Vegan“ suchte. Die Geschichte einer Orthorexie-Betroffenen erzählt der Artikel „Warum ich aufhörte, vegan zu leben“ in der Kölnischen Rundschau. Jordan Younger hatte sich ab 14 vegetarisch ernährt und lebte seit ihrem 22.Lebensjar vegan. Das war jedoch nicht das Ende, sie schränkte ihre Ernährung immer weiter ein und verbannte auch Zucker, Gluten und Öl, trank auch mal tagelang nur ganz bestimmte Säfte. Sie litt zunehmend unter Eiweiß- und B12-Mangel, fühlte sich unausgeglichen und reagierte darauf mit weitere Einschränkungen – bis schließlich ihre Tage mehrere Monate ausblieben. Ein Fischgericht stellte den Zyklus wieder her, worauf sie mit der veganen Ernährung brach und nun versucht, sich ausgewogen zu ernähren.
„Mein Körper hat mir schon vor fast einem Jahr gezeigt, dass er mit einer ausschließlich veganen Ernährung nicht ausreichend versorgt ist, trotzdem hat es bis letzten Monat gedauert, bis ich mich damit abfand, dass ich etwas ändern muss“.
Ihr Blog „The Blonde Vegan“ wurde zu „The Balanced Blonde“ – und ein Buch über ihre Erfahrungen hat sie auch geschrieben: „Braking Vegan“ erscheint im November 2015.
Wie gut, dass ich mein Blog nicht umbenennen muss!
Wie Stammleser wissen, hab‘ ich nie 100%ig vegan gelebt, sondern mich unterschiedlich intensiv darum bemüht, mich „weitgehend pflanzlich“ zu ernähren. Dem vegetarischen Einstieg folgte nach einiger Zeit der Verzicht auf Milchprodukte, den ich ziemlich lange durchhielt. Dem Fisch konnte ich allerdings auf Dauer nicht entsagen, ein passender Schubladenbegriff dazu fehlt. Die Milch im Kaffe ist zwar nicht zurück, doch seit ich beschloss, abzunehmen und Normalgewicht anzustreben, esse ich wieder Käse und auch mal Joghurt. Dafür meide ich Pizza, Pasta, Kuchen und sämtlichen Süßkram, ernähre mich also gemäßigt „Low Carb“, was rein vegan nicht eben einfach und – für mich – mit allzu viel Verzicht und Planung verbunden wäre. In Sachen Fleisch bin ich letztlich bei „nur sehr selten, und wenn, dann bio“ gelandet, nutze aber immer noch hauptsächlich Fleischalternativen aus Soja, Tofu und Seitan.
Zum Glück hab‘ ich dem Blog keinen rein veganen Titel verpasst und einen Untertitel, der sich auf vielfältige Ernährungsweisen bezieht. So besteht kein Grund, ihn umzubenennen, auch wenn sich das Themenspektrum erweitert.
6. September 2015 um 19:32
Hallo, habe schon immer einen etwas erhöhten bmi . Es wurde sogar 2008 Adipositas Stufe 1 diagnostiziert. Seit 6 Jahren bin ich nun Vegetarier, und Ernähre mich bewusst. Aber ist sehr schwer da low crab fast nicht durch zu halten ist ( habe nudel , pizza und wein zum fressen gern ) . Ich habe es nach etwa 8 Jahren mit viel Bewegungen geschafft bmi auf normal zu drücken . Es geht nur bedarf es sehr viel Disziplin das Bewegungsprogramm durchzu halten
7. September 2015 um 01:00
Hm.
Ich denke der relevante Unterschied ist hier die „Sucht“.
Als ehemals Essgestörte kenne ich das Phänomen durchaus, die wirklich krankhafte Angst davor etwas Ungesundes zu essen, Termine abzusagen oder mutwillig zu spät zu kommen, um nicht irgendwas essen zu müssen, was nicht in den Ernährungsplan „passt“. Das ist schon etwas grundsätzlich anderes als sich nur irgendwie besser zu fühlen, weil man sich gesünder ernährt. Es bedeutet „selbstgewählte“ soziale Isolation, das permanente Denken an Essen und die Ausrichtung des gesamten Lebens rrund um das Thema (nicht-)essen.
Man sollte daher nicht den Fehler machen jede Form von gesundem Essen unter einen Krankheitsbegriff zu subsumieren, ebenso nicht den Vegetarismus oder den Veganismus. Das sind hier einfach zwei verschiedene Paar Schuhe: Klar mag es Leute geben, die sich aufgrund einer Essstörung vegan oder vegetarisch ernähren (für viele gibt es ja „sichere“ Nahrungsmittel, die sie zumindest in gewissem Maß essen können), der Zwang den eine Essstörung aber auf einen ausübt, ist eine ganz andere Sache.
Dabei darf man aber nicht Symptome und Ursachen verwechseln, denn damit tut man weder Veganern, noch Vegetariern, noch Essgestörten irgendeinen Gefallen, zumal es durchaus Veganer und Vegetarier gibt, die sich alles andere als gesund ernähren. Ich würde jetzt einfach mal aus dem bauch heraus behaupten, dass die Menge an veganen Backbüchern, vegetarischen Gummitieren und tierfreien Schokoriegeln schon dafür spricht, dass die meisten Veganer und Vegetarier keine Panikattacken bekommen, wenn sie irgendwas mit Zucker essen sollen. Und auch nicht absichtlich zu spät zu einer Hochzeit kommen, nur um die Torte nicht essen zu müssen.
So ein Selbsttest in einem Online-Magazin ersetzt nun auch keine Diagnose und auch keine fachliche Beschäftigung mit dem Phänomen. Das Problem: Für Orthorexie gibt es ja keinen klinischen Standard. Trotzdem ist es eine Art der Störung und das impliziert auch, dass es eben nicht ein Essverhalten aufgrund vernünftiger Erwägungen (ob nun ethisch, gesundheitlich, … begründet ist dabei egal) handelt, sondern um ein irrationales selbstschädigendes Verhalten.
8. September 2015 um 02:38
Mit „Appetit“ hat Orthorexie tatsächlich wenig zu tun. Der Begriff „Orthorexie“ hat eher einen historischen Grund: Traditionell wird das, was in Deutschland „Magersucht“ heißt, als „nervöser Appetitmangel“ (Anorexia nervosa) bezeichnet. Auch das entspricht nicht den Tatsachen, denn Magersüchtige haben oft sehr wohl Appetit. (Auch wenn nicht jede_r es sich selbst und anderen eingestehen kann. Aber das ist ein anderes Thema)
Orthorexie ist lediglich an diesen Begriff angelehnt. :-)
Gesunde Ernährung ist keine Krankheit. Putzen ist auch keine Krankheit. Eine Zwangsstörung, die sich in zwanghaftem Putzen niederschlägt, aber schon. Orthorexie ist (noch) nicht als eigenständige „Nummer“ in die Klassifikationssysteme aufgenommen – aber Orthorexie fällt in eine Restkategorie. Das ist unbestritten. Es geht also in der wissenschaftlichen Debatte weniger darum, ob das Verhalten, was als Orthorexie bezeichnet wird, existiert (und Zeichen einer psychischen Störung ist). Forscher_innen geht es darum, ob Orthorexie als eigenständige Störung auftauchen sollte. Pica, eine Essstörung bei der Dinge gegessen werden, die eigentlich nicht essbar sind (Steine, Metall, verschimmelte Lebensmittel, …) ist zum Beispiel ebenfalls keine eigens aufgeführte Essstörung sondern gehört auch in diese Restkategorie.
Der Rest der wissenschaftlichen Debatte bezieht sich eher auf konkrete Kriterien. Auch bevor es den Begriff Orthorexie gab, wurden Menschen, die unter einem entsprechenden Verhalten leiden, mit einer Essstörung diagnostiziert. Ich schreibe bewusst „leiden“. Denn darum geht es.
Die Frage bei psychischen Erkrankungen ist eigentlich nie, was du machst; sondern wie du es machst und wie es dir dabei ergeht.
Verkürzt gesagt: Ein Mensch, der unter seinem eigenen Essverhalten leidet und dieses Verhalten trotzdem nicht ändern kann, hat eine Essstörung. „leiden“ heißt in dem Fall: berufliche, familiäre und/oder soziale Einschränkunge zu erdulden.
Zum Beispiel, eine klinische Depression erleiden, weil die eigenen Ansprüche nicht erfüllt werden können. Praktisch arbeitsunfähig werden, weil neben den Gedanken um gesunde Ernährung kein Platz mehr für andere Gedanken ist. Panikattacken ertragen müssen, weil ganz eventuell ein winziges Krümelchen eines verbotenen Lebensmittelchens verspeist worden sein könnte. Freunde und Freundinnen dauerhaft nicht mehr treffen, weil die Recherchen rund um Nährstoffe und den „perfekten“ Ernährungsplan zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Massive Schuldgefühle, Selbstzweifel, Minderwertigkeitsgefühle … Bis hin zu körperlichen Selbstbestrafungen und Suizidgedanken.
Du merkst: Orthorexie (ob nun als eigens in einem Krankheitsverzeichnis aufgeführter Begriff, oder „nur“ in Form einer „sonstigen“ Essstörung) ist wirklich keine Kleinigkeit.
Auch andere Symptome, die du vielleicht eher im Zusammenhang mit anderen Essstörungen kennst, können auftreten: Aus Verunsicherung nichts mehr essen. Erbrechen, um ein „schlechtes“ Lebensmittel wieder loszuwerden. Zwanghafte Reinigungskuren, die Panikattacken oder massive Angst auslösen, wenn sie nicht bis ins kleinste Detail wie geplant durchgeführt werden können.
Das ist ebenfalls ein Teil der wissenschaftlichen Debatte: Ist Orthorexie etwas signifikant anderes als die anderen Essstörungen – oder wird sie durch die bereits offiziell verzeichneten Krankheiten abgedeckt? (Bei der Diagnostik kommt es immer auf den Einzelfall an.)
Psycholog_innen geht es nicht darum, vorzuschreiben, wie „normales“ Essen aussehen sollte. (Was gesund ist und was Menschen essen sollten – damit beschäftigen sich Ernährungswissenschaftler_innen und Ärtz_innen.) Es geht in der klinische Psychologie immer darum, wie die einzelne Person damit umgeht und sich dabei fühlt. :-)
Esstörungen sind übrigens generell noch gar nicht so lange als eigenständige psychische Erkrankungen anerkannt – obwohl es sie vermutlich schon immer gegeben hat. Dokumentierte Fälle von Magersucht und Ess-Brech-Sucht reichen bis ins frühe Mittelalter zurück. Die Binge-Eating-Störung wurde erst letztes Jahr als eigenständige Erkrankung in das Verzeichnis der psychischen Störungen der USA richtig aufgenommen. (Im Krankheitsverzeichnis der WHO, das für Deutschland verbindlich ist, taucht die Binge-Eating-Störung noch nicht auf. Das liegt aber eher daran, dass dieses Verzeichnis noch nicht wieder aktualisiert wurde – der dort festgehaltene Wissensstand ist von vor über 20 Jahren.) Dabei gibt es von der Binge-Eating-Störung deutlich mehr Betroffene als von den allgemein bekannteren Störungen Anorexie und Bulimie – und auch hier bestreiten Fachleute keinesfalls, dass diese Form der Essstörung existiert und deutlich anders ist als die bereits offiziell beschriebenen Erkrankungen.
Ich hoffe, du verzeihst mir den langen Kommentar. :-) Aber ich finde es wichtig, solche Missverständnisse richtig zu stellen. Menschen, die unter Essstörungen leiden, werden leider oft nicht ernst genommen. Dabei steckt dahinter eigentlich nie eine böse Absicht. Aber für die Betroffenen macht es leider erst einmal kaum einen Unterschied, warum sie nicht ernst genommen werden. Dieser Comic fasst es eigentlich sehr gut zusammen, wie es sich für viele anfühlt: http://www.fromquarkstoquasars.com/physical-diseases-treated-like-mental-illness/
8. September 2015 um 18:54
Was ist denn eigentlich so schlimm an Pizza! Das ist doch die Verkörperung der empfohlenen Ernährungspryamide: Basis Getreide, darauf Gemüse (Tomaten etc.) und schließlich Käse, ggf. auch nur sparsam.
Und Nudeln? Bestehen zu 100% aus Weizengrieß. Und was ist falsch an einer Soße aus Tomaten und Kräutern?
Warum hat das einen schlechten Ruf? Weil’s schmeckt?
(ich meine natürlich selber gemachte Pizza, bei Tiküpis bin ich auch skeptisch)
24. November 2015 um 17:07
Essstörungen zwängen den Betroffenen in ein enges Korsett aus Regeln – sei es x Stunden Sport, Erbrechen nach mehr als x kcal Nahrungsaufnahme, 3 Tage Fasten nach Normalmahlzeiten, immer den kleinsten Apfel zu nehmen und ihn in 50 Scheiben zu schneiden; oder eben „Iss nur, was bio, roh, fair-trade, vegan, glutenfrei ist, weniger als 100kcal pro 100g hat und viel Protein. Mach täglich einen Einlauf und trinke Detox-Tee. Wenn du versagst, mach Basenfasten und nimm Glaubersalz.“
Das ist keine völlig neue Störung, es ist nur ein anderes Regelsystem als bei der klassischen Anorexie. Ziel ist es, die erlaubten Lebensmittel und Verhaltensweisen möglichst stark einzuschränken – und wie man das macht, ist viel von der Gesellschaft geprägt. (Ob nun low-carb Müsli heutzutage oder low-fat Frozen Jogurt in den 80ern, biovegan, Jane Fonda etc.) Magersüchtige versuchen, das „eklige, ich-dystone“ Fett von ihrem Körper wegzubekommen, Orthorektiker versuchen, Giftstoffe/Ungesundes loszuwerden. In allen Fällen geht es um Ekel/Scham/Schuldgefühle und den Leidensdruck, den der (Fremd)Körper durch seine biologischen Realitäten ausübt. Beide kennen die „perfekte Ernährung“ – Fasten bzw. minutiös geplantes Superessen. Interessanterweise können manche Phänomene der gesundheitsbewussten Ernährung den Fall in eine Essstörung begünstigen, es ist erweisen, das unter bestimmten körperlichen, psychischen und genetischen Voraussetzungen Nahrungsverringerung einen Drang, zu hungern auslöst. Das kann z.B. bei Detoxfasten oder speziellen Retreats (oder wenn man als Veganer in die Mongolei fährt und nichts Veganes findet^^) der Fall sein.
Meine Esstörung und meine vegane Lebensweise sind z.B. getrennt von einander, in ganz schlimmen Phasen konnte ich mich nur von Magerquark ernähren oder habe Vollmilchmüsli gefressen. Sicher gibt es Leute, die das Vegane nur als Ausrede verwenden, aber das löst sich schnell auf, wenn man denn veganen Kuchen anbieten würde – was heutzutage ja nichts Exotisches mehr ist. Zusätzliche Regeln wie bio oder roh hatte ich nie, aber zumindest hat mich diese Beschaffenheit von Lebensmitteln davon abgehalten, sie zu erbrechen. Alles in allem ist es wichtig, auf Orthorexie hinzuweisen, denn auch Gesundheitsbewusstsein kann schiefgehen, aber von Sensationsberichterstattung ist keinem geholfen.